Niko Kappel, Behindertensportler „Wichtig ist, dass man seine Stärken nutzt“

Tessa Hartwig

Bei den Paralympischen Spielen 2016 hat der deutsche Behindertensportler Niko Kappel Gold im Kugelstoßen gewonnen. In Tokio will er diesen Titel jetzt verteidigen. Im Interview mit Valentin (9) und Selma (12) verrät er, welche Hilfsmittel bei den Paralympics erlaubt sind und wie er es findet, wenn andere über Behindertensportler lästern.

Valentin: Glaubst du, dass du dieses Mal wieder eine Medaille gewinnen kannst?

Niko Kappel: Auf jeden Fall! Ich war leider verletzt und musste ein paar Übungen auslassen. Aber ich bin zuversichtlich, dass es gut klappen wird, denn vor allem die Zeit kurz vorm Wettkampf ist sehr entscheidend. Nur ist die Konkurrenz dieses Mal auch stark.

Valentin: Was ist anders als 2016? Ist die Konkurrenz stärker geworden?

Niko Kappel: Die sportliche Leistung ist extrem durch die Decke gegangen. 2016 habe ich mit 13,57 Metern gewonnen. Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften der Behinderten 2019 hätte ein Sportler mit dieser Leistung höchstens den fünften Platz erreicht. Für mich ist es ein großer Druck, denn 2016 waren es meine ersten Spiele, und ich hatte nichts zu verlieren. Dieses Mal bin ich Titelverteidiger.

Selma: War deine Vorbereitung durch die Coronapandemie anders als sonst?

Niko Kappel: Letztes Jahr hatten wir eine Phase, da konnten wir nicht an den Stützpunkten trainieren, also auch nicht hier in Stuttgart. Da habe ich mir im Keller mein eigenes kleines Fitnessstudio gebaut. Darauf bin ich sehr stolz, ich bin nämlich gelernter Bänker und kein Handwerker.

Valentin: Arbeitest du noch in der Bank?

Niko Kappel: Ich arbeite mittlerweile als Sportler. Aber ich bin sehr froh, dass ich meine Ausbildung gemacht habe. Falls irgendetwas passiert, werde ich gerne wieder in der Bank arbeiten. Bis dahin genieße ich es, dass ich mein Hobby zum Beruf machen konnte. Für mich ist damit ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen. Bis vor ein paar Jahren wäre das im Behindertensport noch nicht möglich gewesen.

Selma: Stimmt. Viele Sportler, wie Fußballer, sind sehr berühmt, behinderte Sportler seltener.

Niko Kappel: Wir sind keine Fußballer, das stimmt. Aber in den letzten Jahren hat sich viel entwickelt, die Zuschauer erfahren immer mehr von den Paralympischen Spielen und von uns Sportlern. Das ist wichtig, damit die Menschen merken, dass es völlig egal ist, wenn jemand ein bisschen kleiner ist oder größer, wenn ein Arm fehlt oder ein Bein. Jeder hat seine Stärken und Schwächen. Wichtig ist einfach, dass man die Stärken nutzt und sich über die Schwächen nicht so viel ärgert und beklagt.

Selma: Inwiefern bist du im Alltag denn eingeschränkt?

Niko Kappel: Es ist zum Beispiel im Supermarkt etwas schwerer, wenn etwas nur im obersten Regal steht. Aber es ist fast immer jemand in der Nähe, den man fragen kann. Wenn keiner da ist, versuche ich es mit Springen. Da räume ich dann manchmal das restliche Regal mit ab, aber dann sieht ja keiner, dass ich das war (lacht). Ich kann auch nicht mit jedem Auto fahren. Aber es gibt Hilfsmittel, die man an die Pedale steckt. Manche meiner Trainingskollegen sind über zwei Meter groß, die kommen gar nicht ins Auto rein – das ist auch nicht leicht. Bei denen ist auch oft die Bettdecke zu kurz. Das Problem hatte ich noch nie. Im Gegenteil, ich merke manchmal nicht mal, wenn ich die Bettdecke quer habe, weil das auch schon reicht für mich (lacht).

Valentin: Lästern manche Menschen auch über behinderte Sportler?

Niko Kappel: Solche Menschen gibt es immer. Das ist schade, denn viele dieser Sportler leisten Unglaubliches. Viele waren nicht von Anfang an behindert, sondern wurden durch Unfälle oder Kriegseinsätze verletzt. Ich war immer kleiner als die anderen, und es hat mich nie gestört. Aber für einige der anderen Sportler ist das schwer, denn sie waren körperlich fit, haben dann ein Bein verloren oder landeten im Rollstuhl. Der Sport ist wichtig, denn so können sie wieder Selbstvertrauen aufbauen.

Selma: Findest du das Wort „behindert“ eigentlich okay, oder findest du ein anderes Wort besser?

Niko Kappel: Behinderung ist der offizielle Begriff. Das heißt, wir werden Behindertensportler genannt. Außerhalb des Sports wird das Wort „behindert“ aber oft als Beleidigung benutzt, das ist uncool. Deshalb benutze ich oft das Wort „Handicap“ oder „Beeinträchtigung“.

Valentin: Warum hast du dich fürs Kugelstoßen entschieden? Auf Instagram sieht man ja, dass du auch gern Fußball spielst.

Niko Kappel: Ich war lange Vollblut-Fußballer. Aber ich bin allgemein sehr ehrgeizig als Sportler. Als ich dann das erste Mal die Paralympics gesehen habe, habe ich die Chance gesehen, mich mit Sportlern zu messen, die die gleichen körperlichen Voraussetzungen haben wie ich. Da es damals noch nicht allzu viele Disziplinen gab, habe ich mich für die Leichtathletik entschieden. Erst habe ich auch Speerwurf gemacht, war aber auch schnell im Kugelstoßen sehr gut. So habe ich mich dafür entschieden.

Valentin: Sind bei den Paralympics Hilfsmittel erlaubt?

Niko Kappel: Ja, in vielen Disziplinen schon. Zum einen natürlich Prothesen. Das heißt, wenn jemandem ein Arm oder ein Bein fehlt, darf er einen Ersatz tragen. Wer nicht gehen kann, darf einen Rollstuhl benutzen. Bei den Blinden ist es sehr interessant. Zum Beispiel hilft beim Weitsprung der Trainer oder Betreuer. Der steht vor der Grube und klatscht oder macht Geräusche, damit der Blinde weiß, wo er hinsprinten und abspringen muss. Stellt euch das mal vor: Ihr seht nichts und sollt mit voller Geschwindigkeit losrennen!

Selma: Das würde ich mich nicht trauen. Niko Kappel: Richtig. Aber die machen das. Sie springen und vertrauen, dass sie im Sand landen. Und erbringen dabei sportliche Höchstleistungen. Das ist das Spannende und auch das Besondere an den Paralympics.


Der 26-Jährige Niko Kappel kommt aus Welzheim im Rems-Murr-Kreis. Der kleinwüchsige Sportler (1,41 Meter) hat sich auf die Leichtathletik und das Kugelstoßen spezialisiert und ist darin sehr erfolgreich. 2017 wurde er in London mit einem Stoß über 13,81 Meter Weltmeister, 2019 in Dubai Vizeweltmeister. Sein größter Erfolg war der Gewinn der Goldmedaille bei den Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016, den er jetzt in Tokio verteidigen will. Dafür trainiert er fünf- bis sechsmal die Woche, etwa drei bis vier Stunden am Tag.

Info:
Am 24. August starten in Tokio die Paralympischen Spiele, auch Paralympics genannt. Diese Olympischen Spiele für Menschen mit Behinderung gibt es seit 1960. „Para“ ist griechisch für „neben“, denn die Spiele finden bildlich gesprochen „neben“ Olympia statt. Tatsächlich finden die Paralympics aber immer drei Wochen nach dem Ende der Olympischen Spiele am gleichen Austragungsort statt. Die Athletinnen und Athleten sitzen zum Beispiel im Rollstuhl, ihnen fehlt ein Arm, oder sie sind blind. Sie treten in 22 Disziplinen gegeneinander an, etwa im Rollstuhltennis, im Blindenfußball oder – wie Niko Kappel – in der Leichtathletik.