Lili Paul-Roncalli „Normalen Alltag fand ich langweilig“

Anne Kraushaar

Lili Paul-Roncalli ist als Tochter einer Artistin und eines Zirkusdirektors im weltberühmten Circus-Theater Roncalli aufgewachsen. In dem Buch „Manege frei für Lili“ erzählt sie von ihrer Kindheit in der glitzernden Zirkuswelt.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie könnten sich keine bessere Kindheit vorstellen als die, die Sie hatten. Was haben Sie am Leben im Zirkus besonders geliebt?

Lili: Ich fand es toll, all die Künstler um mich herum zu haben. Wenn mich ein Trick von ihnen interessiert hat, konnte ich ihn mir gleich zeigen lassen. Und als ich dann selbst angefangen habe, Kontorsion zu trainieren, also mich mit meinem Körper extrem zu verbiegen und verdrehen, haben mir die anderen Artisten viel geholfen. Ich fand es spannend, die Kunststücke im Zirkus nicht nur einmal zu sehen und dann nach Hause zu gehen, sondern die ganze Zeit über dabei sein zu können.

Als Kind war es für Sie völlig normal, wenn Ihr Vater geschminkt und mit Clownsnase am Mittagstisch saß, weil er gleich wieder in die Manege musste. Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Ihnen das erste Mal auffiel, dass die Welt da draußen ganz anders war?

Lili: Das war, als ich in die Schule gekommen bin. Da habe ich gemerkt, wie der Alltag im normalen Leben ausschaut, und war erstaunt, dass da ja jeder Tag wie der andere verlief! Das fand ich ein bisschen langweilig. Außerdem musste ich mich daran gewöhnen, dass immer alles genau nach der Uhrzeit ablief. Im Zirkus war es die Musik, die den Tag unterteilte. Ich wusste, bei diesem Lied fängt die Vorstellung an und bei diesem muss ich langsam nach Hause, weil es Essen gibt.

Außerdem lernten Sie in der Schule einen neuen Begriff kennen: Verabreden. Das hatten Sie bis dahin gar nicht gekannt. Warum nicht?

Lili: Im Zirkus wohnten wir alle nur ein paar Schritte voneinander entfernt auf dem geschützten Gebiet innerhalb des Zirkuszauns. Wenn wir miteinander spielen wollten, sind wir einfach bei den anderen vorbeigegangen und haben an ihrem Wohnwagen geklopft. Sich schon eine Woche vorher zum Spielen zu verabreden, fand ich ein bisschen komisch.

Was hat das Leben auf dem Zirkusplatz außerdem ausgezeichnet?

Lili: Eigentlich ist es wie in einem Dorf, in dem jeder sein eigenes Zuhause hat. Der Unterschied ist, dass wir alle viel näher beieinander wohnen. Und dass die Wohnwägen so zueinander gestellt werden, dass sich die Nachbarschaft gut ergänzt: So werden zum Beispiel die Wohnwägen der Familien nebeneinander gestellt, damit die Kinder miteinander spielen können, und die Wohnwägen der Jüngeren, damit sie ein bisschen feiern und ausschlafen können. Also eigentlich wie in einem normalen Dorf, nur dass „normal“ im Zirkus ja eher ein Fremdwort ist.

Können Sie beschreiben, warum?

Lili: Womit wir Zirkusleute uns beschäftigen, ist ja alles eher außergewöhnlich. „Normal“ gibt es bei uns daher irgendwie nicht. Für uns Kinder war es etwa nie etwas Weltbewegendes, wenn sich ein Mann geschminkt oder eine Artistin eine andere Sprache gesprochen hat. Was zählte, war, dass man sich als Gemeinschaft aufeinander verlassen konnte. Schließlich lebt man auf engem Raum zusammen – und in der Manege könnte ein Fehler des einen für den anderen lebensgefährlich sein.

Wie war es für Sie, immer wieder in andere Städte weiterzuziehen?

Lili: Das war überhaupt kein Problem, weil das ganze Rundherum, das „Dorf“, ja immer mit mir gewechselt hat. Ich fand es eher spannend, wenn es nach ein paar Wochen wieder weiterging, weil ich dann alles von der Stadt gesehen hatte.

Mit sechs Jahren wurden Sie in eine Grundschule eingeschult, aber schon bald haben Sie während der Zirkussaison Unterricht im Zirkuswagen bekommen. Können Sie uns diesen Schulalltag beschreiben?

Lili: Meine Klasse bestand nur aus mir und meiner Freundin und natürlich der Lehrerin, die uns unterrichtete. Wir hatten immer von 9 bis 13 Uhr Schule. Dann haben wir Mittag gegessen und trainiert. Am Nachmittag hatten wir noch einmal zwei Stunden Schule. Mir hat das gefallen. Da die Klasse so klein war, konnte unsere Lehrerin gut auf uns eingehen. Im Winter, wenn der Zirkus Pause machte und wir in unserem Haus in Köln wohnten, bin ich dann wieder in die normale Schule gegangen.

Sie sind bereits mit sechs Jahren vor 1500 Menschen in der Manege aufgetreten, und doch beschreiben Sie sich als eher schüchtern. Waren diese Auftritte im Rampenlicht nie schwer für Sie?

Lili: Überhaupt nicht, da war ich bei einer Präsentation in der Schule schon viel aufgeregter! Im Zirkus kannte ich die Leute im Publikum ja nicht und habe etwas vorgeführt, das ich gerne einstudiert habe. In der Schule habe ich es gemacht, weil ich es musste.

Für ihr Training als Kontorsionistin brauchten Sie viel Disziplin. Wie oft und wie lange am Tag mussten Sie trainieren?

Lili: In der Regel habe ich zwei bis drei Stunden am Tag trainiert, an den Wochenenden mehr. Als mich eine Zeitung mal „Zirkusprinzessin“ genannt hat, mochte ich das nicht. Das klingt so, als steckte gar keine Arbeit dahinter.

Gab es auch mal Momente, an denen Sie keine Lust auf das Training hatten und zum Beispiel lieber ins Freibad gegangen wären?

Lili: Überhaupt nicht, das Training hat mir immer Spaß gemacht. Es war eher die Schule, auf die ich keine Lust hatte (lacht).

Ihre Schwester litt vor ihren Auftritten immer stark an Lampenfieber. Sie selber beschreiben sich dagegen als sehr entspannt. Haben Sie einen besonderen Trick, die Nervosität auszublenden?

Lili: Man darf sich nicht so auf das Negative fokussieren, sondern lieber auf die ganze Arbeit, die man reingesteckt hat. Man hat so viel trainiert und ist deswegen ja auch relativ sicher in dem, was man macht. Statt nervös zu sein, sollte man lieber versuchen, die Vorfreude zu spüren. Und dann in die Manege treten.


Lili Paul-Roncalli wurde 1998 als jüngstes von drei Geschwistern in München geboren und stand schon früh in der Manege des Circus Roncalli. Mit sechs Jahren beschloss sie, Kontorsionistin, also Schlangenfrau, zu werden. Heute ist die 24-Jährige erfolgreiche Artistin, Model, Autorin und TV-Star, die im Jahr 2020 gemeinsam mit ihrem Tanzpartner Massimo Sinató die RTL-Show „Let’s dance“ gewann. Ihr Buch "Manege frei für Lili" ist im Oetinger Verlag erschienen.